Machen wir uns nichts vor: So mancher Erwachsene, selbst wenn es sich um einen Akademiker handelt, kann sein Leben bestreiten, ohne nach seiner Schulzeit auch nur ein einziges literarisches Werk von Rang zu lesen, manche werden noch nicht einmal zu Crichton oder Grisham greifen. Die Aufgabe der Literaturwissenschaft muss es u.a. sein, diesem Mangel abzuhelfen, gerade auch in der Schule. Literatur bereichert das Leben, diese Tatsache muss erfahrbar gemacht werden. Ein hochgestecktes Ziel. Aber wie ist das zu bewerkstelligen? Traditionell wurden die Schüler genötigt, bestimmte literarische Werke zu lesen, aus denen die Pädagogen dann allerhand Weisheiten herausdeuteten, die die Schüler dann in leichten Variationen in ihren Klassenarbeiten wiederkäuten und an bestimmten Textstellen belegen durften. Als klassische Schullektüren dürfen Frischs "Homo Faber" (ohne Zweifel ein guter Roman) und die beiden Stücke "Andorra", ebenfalls Frisch, sowie "Die Physiker" von dessen Schweizer Kollegen Dürrenmatt gelten. Zumindest die beiden Stücke, von ihren Autoren auf kongeniale Weise zeitlos angelegt, stehen noch heute mit Recht auf den Lehrplänen.
Im Englischunterricht der Oberstufe, der heute ohne Probleme von seiner inhaltlichen Tiefe her mit dem Deutschunterricht gleichziehen kann, verlegt man sich gerne auf ein geradezu klassisches Thema: die Anti-Utopie. So hat Huxleys "Brave New World" noch immer ihren Platz im Kanon, ähnliches dürfte mit Sicherheit für "1984" von Orwell und möglicherweise auch für den guten alten "Lord of the Flies" (William Golding) gelten. Zur politischen Sozialisation Heranwachsender scheinen die klassischen Anti-Utopien exzellent geeignet: Zeigen wir den Schülern erst einmal, was politisch überhaupt nicht geht und von vornherein zum Scheitern verurteilt ist. Mochten die Anti-Utopien bis 1989 (damit ist jetzt ein Jahr gemeint, kein Roman :-)) durchaus als Kritik am damals "real existierenden Sozialismus" gelesen werden (zumindest bei Orwell ist dies auch intendiert), sind sie seit der Wende in jenem Jahr für Konservative eher eine Apologetik des tradierten demokratischen Systems. Es gibt halt nichts besseres als Demokratie westlicher Prägung. (Dem pflichte ich zwar bei, aber für Literaturunterricht ist diese Feststellung etwas platt.) Natürlich steckt in Wirklichkeit mehr dahinter, ähnlich wie bei den genannten Stücken von Frisch und Dürrenmatt geht es (auch bei Orwell) um Pervertierungen, die jenseits politischer Theorien in der menschlichen Natur schlechthin angelegt sind: Hobbes lässt grüßen.
Aber zurück zum Thema: Dankenswerterweise verlegt sich der Literaturunterricht nicht nur auf die althergebrachten Lektüren, sondern bringt auch viel Neues ein: Da wäre z. B. "Der Vorleser" zu nennen, ein guter Roman eines Juristen (Fachleute sind eh die besten Literaten, siehe Architekt Frisch), der den Versuch unternimmt, dem Leser die Themen "Recht in der NS-Zeit" und "Rechtspositivismus" nahezubringen. (Pech nur, wenn der Deutschlehrer den Begriff Rechtspositivismus gar nicht kennt und die Passagen, die wie Auszüge aus juristischen Aufsätzen wirken, nicht zu lesen versteht. Aber das ist ein anderes Thema.) Durch die lebensweltliche Verankerung in der Welt junger Erwachsener kann, wenngleich der Protagonist von den Schülern Jahrzehnte entfernt ist, eine gewisse Identifikationsbasis geschaffen werden. Die SuS interessieren sich im Idealfall für den Roman. Ob das beim "Homo Faber" oder gar bei der "Blechtrommel" auch funktionieren würde? Kaum.
Der Englischunterricht greift gar auf den anfangs erwähnten Autor Grisham (zumindest "The Firm", wahrscheinlich auch andere Werke) zurück. Gut ist auch die Einbeziehung von Young Adult Literature, namentlich etwa "Uglies" (Scott Westerfeld) oder auch "Angela", ein Werk des Australiers James Moloney. Es gelingt Moloney, in die eher simple Thematik einer Mädchenfreundschaft wesentliche Aspekte aaustralischer Geschichte einzuflechten.
Fazit erstmal: Die Lehrpläne sind angemessen. Natürlich kommt es auf die angemessene Vermittlung des Stoffes an, die SuS sollen sich im Idealfall für die literarischen Werke interessieren.
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